Abschied von gewohnten Vorstellungen
Peter Scholl-Latour und Ulrich Kienzle sprachen bei der Deutsch-Arabischen-Gesellschaft über die Veränderungen am südlichen Mittelmeer
Donnerstag, den 31. März 2011

Mit dem Verhalten gegenüber Libyen und dessen Revolutionsführer Gaddafi habe die europäische Heuchelei einen Höhepunkt erreicht, so der Präsident der Deutsch-Arabischen-Gesellschaft (DAG), Prof. Dr. Peter Scholl-Latour. Er hob dabei auf einen Vergleich mit dem sudanesischen Präsidenten Al-Bashir ab, der per Haftbefehl gesucht werde, während Libyens Gaddafi hofiert worden sei.
Zusammen mit anderen Kennern des Nahen und Mittleren Ostens sprach er vor annähernd dreihundert Mitgliedern und Gästen der DAG Ende Februar in Berlin. Man kann es als glücklichen Umstand bezeichnen, dass sie erst zu spät zu ihrem Neujahrsempfang eingeladen hatte, bot dies doch die Gelegenheit, ausführlich über die politischen Umbrüche zu sprechen, die die arabische Welt gegenwärtig erlebt.
Die Irrtümer der Europäer und auch der USA in der Einschätzung der arabischen Länder waren es, auf die die Redner besonders hinwiesen, neben Scholl-Latour der langjährige ARD-Arabien- und Nahost-Korrespondent Ulrich Kienzle (DAG-Vizepräsident) und das DAG- Vorstandsmitglied Botschafter a. D. Dr. Gerhard Fulda, der zufällig an den Tagen der Demonstrationen in Kairo deren Augenzeuge auf dem Tahrir-Platz wurde. Diese Revolution sei das "leichtherzigste" gewesen, so Fulda, was man sich denken könne, "eine Lektion für die Europäer".
Obwohl, so Scholl-Latour, die gegenwärtige Entwicklung überraschend kam, sei sie dennoch vorhersehbar gewesen, wenn man nur auf den großen Anteil der jungen, beschäftigungslosen Bevölkerung blicke. Förderlich seien auch die Kommunikation via Internet und social media gewesen. Überraschend sei auch gewesen, da war er sich mit Kienzle einig, das die Demonstrationen in Tunesien und Ägypten begonnen haben, wo doch die Ägypter eher für die gleichmütige Lebensart des "malesh" ("Es macht nichts.") bekannt seien, so Kienzle.
Zur Zukunft des Nillandes empfahl Scholl-Latour Gelassenheit und warnte vor einer Überbewertung der Muslimbruderschaft, die nicht mit Terrorismus gleichzusetzten sei. Der Terrorismus, insbesondere Al-Qaida, sei vor allem durch die USA zu einem Popanz aufgebaut worden. Er warnte allerdings davor, bei den Demokratie fortschritten westliche Maßstäbe anzulegen. Triumphgefühle seien unangebracht, vielmehr müsse man die Dinge so nehmen wie sie sind und den arabischen Völkern ihre Entwicklung selbst überlassen, was bisher nicht genügend geschehen sei. Notwendig sei der "Abschied von Arroganz".
Abschied nehmen von gewohnten Vorstellungen – mit dieser Einschätzung sekundierte Ulrich Kienzle seinem Vorredner. Man könne die Entwicklung in Ägypten und anderswo nicht prophezeien, denn eine Demokratie im Nahen Osten werde eine andere sein als im westlichen Sinne. Kienzle warnte vor falschen Einschätzungen. Israels Demokratiemonopol werde entfallen. Er zeigte sich eher verwundert über die zögerliche Haltung voller Bedenken der Europäer, anstatt sich über den Ruf der Bevölkerung nach Demokratie und Menschenrechten zu freuen.
Der Umbruch in den arabischen Ländern, so hoffte der DAG-Präsident, werde Europas Bild der südlichen Mittelmeerländer korrigieren, nämlich dahin, dass sich beide Seiten des Mittelmeers komplementär zueinander verhalten. Wenn die Revolutionen in den arabischen Mittelmeerländern erfolgreich sein werden, dann, so DAG-Vizepräsident Kienzle, sollen diese Länder auch den gleichen Zugang zu den europäischen Märkten erhalten wie Israel. Denn noch schottet sich die EU, etwas bei Agrarimporten, ab.
Rainer Schubert
Fotos: DAG