"Die Trennung zwischen Religion und Staat ist richtig."
Interview mit Dr. Ahmad Badr Al-Din Hassoun
Mittwoch, den 17. November 2010

Der Großmufti von Syrien, Dr. Ahmad Badr Al-Din Hassoun, besuchte im Mai dieses Jahres Deutschland. Es war nicht sein erster Besuch und wird auch nicht sein letzter gewesen sein. Bei jeder seiner Reden sitzen und stehen die Zuhörer dicht gedrängt, wenn er über die Toleranz der Religionen und die Trennung von Staat und Religion spricht. ARAB FORUM hatte Gelegenheit, dem Großmufti von Syrien nach seinem jüngsten Deutschlandbesuch einige Fragen zu stellen.
ARAB FORUM: Sie predigen religiöse Toleranz, die Säle sind voll, Sie bekommen großen Beifall beim ökumenischen Kirchentag in Deutschland und stehende Ovationen von den Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Bei so viel Zuspruch zu Reden über Humanität und Menschlichkeit - haben Sie überhaupt Gegner?
Hassoun: Die Propheten und Gesandten Gottes predigen für religiöse Toleranz – es ist die Mission der Reinen und Auserwählten durch alle Zeitalter, weil sie alle wollen, dass der Mensch in Sicherheit und Frieden lebt und weil der Mensch nicht allein leben kann, getrennt von seinem Bruder. Das menschliche Zusammenleben erfordert, gesetzliche Regeln zu schaffen und zu praktizieren sowie einen Glauben zu wählen, um die Herzen mit Liebe und Respekt für den Menschen zu füllen. Dieser religiöse Glauben predigt, die Würde des Menschen zu bewahren.
Die Beziehung zwischen Personen und Gruppen innerhalb der Gesellschaft, zwischen Völkern und Nationen ist eine freundschaftliche, um Bekenntnisse und Vorteile auszutauschen. Sie ist keine kämpferische oder feindschaftliche Beziehung. Es steht im Koran geschrieben: "Oh ihr Menschen, wir haben euch ja von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennen lernt. Gewiss, der Geehrteste von euch bei Allah ist der Gottesfürchtigste von euch. Gewiss, Allah ist allwissend und allkundig." 1
Trotz aller Rufe zur Reform und zur Erlangung der menschlichen Würde, zur kulturellen Höherentwicklung der Beziehungen blieb der Kampf zwischen dem Gerechten und dem Falschen, zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen dem Reinen und der Sünde bestehen. Er kann nicht enden. Deswegen gibt es Feinde gegenüber jedem Prediger für Reformen. Das ist normal. Im Gegenteil, der Prediger hört nie auf weiterzumachen. Er ist bestrebt, in der Kritik Vorteile zu erkennen, besonders wenn sie konstruktiv ist und die Absicht verfolgt, seine Stellung zu festigen und zu konsolidieren.
ARAB FORUM: Ihre Worte stehen im Gegensatz zu vielen Vorstellungen über den Islam in Europa, den man für intolerant, ja sogar gewalttätig hält. Viele Menschen haben Angst vor dieser Religion, es geht das Wort Islamophobie um; die Schweizer wollen gar den Bau von Minaretten verbieten lassen. Wie erklären Sie den Unterschied, ja den Gegensatz zwischen dieser Wahrnehmung und der Toleranz, die Sie predigen?
Hassoun: Die Stellungnahme gegenüber Anderen kann zwei unterschiedliche Zwecke haben: entweder sie dient der Propaganda und der Selbstdarstellung oder sie dokumentiert, dass man nach Kern und Inhalt der Dinge sucht. Zweifelsohne gehören zu einer voreiligen Stellungnahme Ungerechtigkeit und Missbrauch. Der Ursprung der zwischenmenschlichen Beziehung ist jedoch auf Wahrheiten aufgebaut.
Deswegen und um aus der neuen Krise, nämlich der Angst vor dem Islam, herauszufinden, richte ich meine Worte an alle Seiten, wenn es um Islamophobie geht, alles zu überprüfen und verifizieren, bevor man jemanden beschuldigt oder anklagt. Europa braucht den reinen und unverfälschten Islam und seine Verbreitung nicht zu fürchten. Wir glauben, dass der wissenschaftliche Fortschritt, den Europa erreicht hat, die Seele und die Werte der Religion braucht.
Wir sagen den Muslimen, sie sollen sehr verantwortlich sein, wenn sie den Islam als praktischen Umgang miteinander voller Liebe und Bruderschaft vorstellen, wie Allah, sein Name sei gepriesen, es in der täglichen Anwendung wollte. Das Verbot der Schweizer, Minarette zu bauen, ist mehr eine politische Angelegenheit als eine religiöse Frage. Auch diejenigen, die gegen den Bau von Minaretten votiert haben, verkennen die wahre Religion des Islam und des Christentums. Seit Jahrhunderten haben die Stimmen der Muezzine und die Gesänge der Kirchen in allen Hauptstädten der Welt gemeinsam geklungen, und so ist es immer noch. Soll der Mensch in der Zivilisation, die er errichtet hat, voran oder rückwärts schreiten? Das gute Wort zwischen den Anhängern der monotheistischen Religionen ist Kern des Wirkens aller Gläubigen. Jeder Gläubige praktiziert die Rituale seiner Religion, ohne dass wir Muslime zwischen den Propheten des jeweiligen Gottes unterscheiden.
ARAB FORUM: Ein Ausdruck der Skepsis vor dem Islam in Europa ist die Abneigung gegen das Kopftuch, das als religiöses Bekenntnis und als Unterdrückung der Frau gesehen wird und daher verboten werden soll. Belgien und Frankreich haben ein Burkaverbot beschlossen. Ist dies ein Ausdruck religiöser Intoleranz in Europa?
Hassoun: Die Freiheiten sind personenbezogen. Die Gesetze schreiben nicht vor, welche Kleidung man trägt und welche nicht. Die muslimische Frau ist frei, einen Schleier zu tragen, so wie auch andere frei sind, ihre Kleidung zu wählen. Was ist mit der Globalisierung passiert, dass sie sich in unnötige Einzelheiten einmischt, die sie nichts angehen?
Den Glauben und das, woran man glaubt, wählt man selbst aus. Die Religion kann nicht erzwungen werden, genauso wie die Verschleierung. Sie ist eine persönliche Entscheidung, die nicht erzwungen oder verboten werden darf. Der Zweck der Gesetze liegt darin, vom Bürger zu verlangen, seinen Pflichten nachzukommen und die Verantwortung zwischen den Menschen gleichmäßig zu teilen, ohne sich in den Glauben und sein Erscheinungsbild einzumischen.
Der Schleier ist nicht nur ein Symbol für die muslimische Frau. Er liegt in der menschlichen Natur der Frau und ist in allen Kulturen und Religionen vorhanden, trotz ihrer Unterschiede. Wenn man den Juden fragt: Wie stellst Du Dir die Mutter Moses' gekleidet vor?, dann wird er antworten: Mit einem langen Kleid und Schleier, das ist die Kleidung der Keuschheit. Wenn wir die Bilder in allen Kirchen der Welt anschauen, sehen wir die Heilige Maria mit einem Schleier um den Kopf. Es gibt keine Beziehung zwischen dem Schleier und einer Kleidung, die unbedingt die Freiheit der Frau unterdrückt. Sie kann wählen, was sie tragen möchte. Niemand und kein Gesetz zwingen sie zu etwas. Belgien, Frankreich und andere Staaten sollen ihre Einstellung in dieser Hinsicht ändern und die Sache aus einem größeren Blickwinkel betrachten, nicht aus der Sicht der Angst um Europa vor dem Islam. Sie sollen dem Menschen die Freiheit der Wahl ihres Glaubens und ihrer äußeren Erscheinung überlassen.
ARAB FORUM: Sie vertreten das Prinzip der Trennung von Staat und Religion. In Europa ist die Auffassung verbreitet, der Islam sei zu dieser Trennung nicht fähig. Stimmt das?
Hassoun: Die Trennung zwischen Religion und Staat im Sinne der Kompetenzteilung ist richtig. Der Staat kann nicht religiös sein, und die Religion kann nicht von der Politik abhängen. Der Islam hat keinen Staat in seinem Namen errichtet. Die Kalifate wurden im Namen der Weisheit gegründet, und die Staaten nach der Zeit der Kalifate wurden nach ihren Gründern benannt und nicht nach der Religion. So gab es den Staat der Omayyaden, der Abbassiden usw.
Staat bedeutet verwalten und regieren. Wenn Unordnung entsteht, wird ein Fehler auf den Verursacher zurückgeführt und nicht auf dessen Religion. Deswegen sagen wir, es muss eine Trennung von der Religion geben, die konstant bleibt und nicht am Wandel der Politik hängt. Gleichzeitig muss jeder Staat seine Ordnung auf eine moralische Basis stellen, um den spirituellen Idealen, die die monotheistischen Religionen mit dem Ziel gepredigt haben, Gerechtigkeit walten zu lassen und die Würde des Menschen zu bewahren.
ARAB FORUM: Viele Menschen in Europa glauben, der Islam sei nichts Europäisches, ja die Europäische Union sei eine christliche Gemeinschaft. Was halten Sie von dieser Auffassung?
Hassoun: Die monotheistischen Religionen sind nicht für Länder und Personen, sondern international für die menschliche Würde bestimmt. Die Gesellschaften wählen daraus die Religion, was ihnen passt, ohne dass ihnen eine bestimmte aufgezwungen wird. Im praktischen Leben der arabischen, der islamischen und aller anderen Ländern der Welt gibt es Christen, so, wie es Muslime in den Ländern der Europäischen Union, der USA und den übrigen Ländern dieser Welt gibt.
Im Allgemeinen wird gesagt: islamische Gesellschaft, christliche Gesellschaft, ohne dass es bedeutet, dass diese Gesellschaften keine Anhänger anderen Glaubens haben. Das schlimmste ist, wenn die Gesellschaft sich abschließt, sei es durch ihren Namen oder in der Praxis, wie die Israelis es heute tun. Sie lehnen die Existenz anderer Religionen unter ihnen ab, sowie sie andere Sprachen als die ihre in ihrer Gesellschaft ablehnen. Die Öffnung der Kulturen füreinander verleiht ihnen Differenzierung und Brillanz und führt den Weg der Zivilisation zum Besseren, Schöneren und zu ihrer Vervollkommnung.
ARAB FORUM: Glauben Sie, dass mit mehr religiöser Toleranz der Nahost-Konflikt gelöst werden könnte? Immerhin haben früher Juden, Christen und Muslime friedlich miteinander in Palästina gelebt, und sie tun es in Syrien bis heute.
Hassoun: In der Levante und besonders in Syrien lebten die Menschen Jahrhunderte lang miteinander. Sie gehörten zu den unterschiedlichen monotheistischen Religionen, ohne dass das friedliche Leben gestört war. Dies ging bis zur Entstehung des zionistischen Staates auf palästinensischem Boden. Damit begann der Extremismus aufgrund der Vertreibung der Einheimischen von ihrem Grund und Boden und der Einwanderung von Menschen aus unterschiedlichen Ländern, die den Besitz der Einheimischen eingenommen haben. Dies verschlimmerte sich durch die Proklamation des religiösen Staates, der die Existenz anderer Staaten neben sich ablehnt, was zu einer Gegenreaktion geführt hat.
In der Region wird es keine Lösung geben, wenn nicht jeder Mensch zu seinem Land zurückkehrt, aus dem er gekommen ist und die Palästinenser in ihr Land zurückkehren. Das heilige Land soll eine Pilgerstätte bleiben, die die Menschen, die zu Besuch kommen, empfängt, um die Rituale ihres Glaubens zu praktizieren. Danach kehrt jeder wieder in sein Ursprungsland zurück.
Es ist nicht vernünftig, dass alle Muslime in Mekka, am Ort der Offenbarung leben, so wie es auch nicht vernünftig ist, dass alle Christen in Betlehem an der Geburtsstätte Christi leben. Und es ist auch nicht vernünftig, dass alle Juden im Land der gesegneten Klagemauer leben. Mekka, Betlehem und Jerusalem sind heilige Orte und Länder, in die die Menschen in Frieden und Sicherheit pilgern. Danach kehrt jeder Pilger wieder in sein Ursprungsland zurück.
Die Fragen stellte
Rainer Schubert